Im Streitfall
Grenzüberschreitendes Ärgernis
BGH-Urteil: Wärmeschutzüberbau einer Grenzwand darf – jedenfalls in Berlin – über das Nachbargrundstück ragen
Text: Ulrike Gantert | Foto (Header): © Tom Bayer – stock.adobe.com
Energetische Sanierungen erleben einen Boom – nachträgliche Wärmedämmungen in Bestandsgebäuden haben ein großes Potenzial zur Energieeinsparung inne. Während bei alleinstehenden Gebäuden eine solche Sanierung zu wenig Konflikten führen dürfte, sieht das in dicht bebauten Siedlungsgebieten anders aus. Ist das Anbringen einer Wärmedämmung an der grenzständigen Giebelwand zu dulden? Und wie sieht es mit der Anbringung eines hängenden Gerüstes im Zuge der Arbeiten aus? Unsere Expertin geht diesen Fragen anhand eines Urteils des Bundesgerichtshofes (BGH) nach.
Auszug aus:
Der SanierungsVorsprung
Ausgabe Oktober / November 2024
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INHALTE DES BEITRAGS
Sachverhalt
Entscheidungen des Amtsgerichts und des Landgerichts
Entscheidung des BGH
Anmerkung
Der BGH befasste sich jüngst mit § 16a des Berliner Nachbarrechtsgesetzes (NachbarGBln); die Vorschrift lautet:
„§ 16a NachbG Bln – Wärmeschutzüberbau der Grenzwand
(1) Der Eigentümer eines Grundstücks hat die Überbauung seines Grundstücks für Zwecke der Wärmedämmung zu dulden, wenn das zu dämmende Gebäude auf dem Nachbargrundstück bereits besteht.
(2) Im Falle des Wärmeschutzüberbaus ist der duldungsverpflichtete Nachbar berechtigt, die Beseitigung des Überbaus zu verlangen, wenn und soweit er selbst zulässigerweise an die Grenzwand anbauen will.
(3) Der Begünstigte des Wärmeschutzüberbaus muss die Wärmedämmung in einem ordnungsgemäßen und funktionsgerechten Zustand erhalten. Er ist zur baulichen Unterhaltung der wärmegedämmten Grenzwand verpflichtet.
(4) § 17 Abs. 3 gilt entsprechend.
(5) § 912 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches gilt entsprechend.“
Sachverhalt
Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die Klägerin und die Beklagte sind Eigentümer benachbarter Grundstücke in Berlin. Auf beiden Grundstücken stehen Bauten, die direkt aneinander angrenzen. Das Gebäude der Beklagten ist ca. 7,5 m niedriger als das der Klägerin, dessen Giebelwand seit 1906 nicht saniert wurde. Die Klägerin plant, im Rahmen einer Fassadensanierung den Giebel ihrer Grenzwand mit einer 16 cm starken mineralischen Dämmung zu versehen. Für die Dauer der Arbeiten will sie zu deren Durchführung ein sog. hängendes Gerüst über dem Dach des Gebäudes der Beklagten anbringen.
Entscheidungen des Amtsgerichts und des Landgerichts
Das Amtsgericht Berlin-Pankow/Weißensee verurteilte die Beklagte, die Überbauung ihres Grundstücks, die Anbringung eines hängenden Gerüsts für die Dauer von drei Monaten und das Betreten des Daches des Gebäudes der Beklagten durch die Klägerin zur Durchführung der Sanierungs- und Wärmedämmungsarbeiten zum Zweck der Wärmedämmung der grenzständigen Giebelwand des klägerischen Gebäudes zu dulden. Die Beklagte legte Berufung gegen das Urteil ein. Das Landgericht Berlin wies die Berufung mit Urteil vom 28.01.2021, Az. 65 S 52/ 18, mit folgender Begründung zurück:
Nach § 16a NachbarG Bln sei die Beklagte verpflichtet, das Anbringen der Wärmedämmung an der grenzständigen Giebelwand des klägerischen Gebäudes zu dulden. Die Regelung sei formell verfassungsgemäß, da dem Land im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung die Gesetzgebungskompetenz zu ihrem Erlass zugestanden habe. Die Norm sei auch inhaltlich verfassungsgemäß, weil sie nicht einseitig die Interessen des dämmenden Eigentümers begünstige, sondern vor dem Hintergrund der allgemein anerkannten Notwendigkeit der Steigerung der Energieeffizienz und der Senkung des Energiebedarfs zu sehen sei.
Der Landesgesetzgeber habe bewusst auf unbestimmte Rechtsbegriffe verzichtet. Die Regelung sehe zwar keine Einschränkungen der Duldungspflicht vor; diese folgten aber aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen. Demnach müsse der dämmende Eigentümer den Grundsatz von Treu und Glauben beachten und die Eigentumsrechte des Nachbarn wahren. Dessen Duldungspflicht entfalle daher, wenn eine Innendämmung eine adäquate Alternative wäre. Zudem sei ausdrücklich das Recht des Nachbarn, die Beseitigung des Überbaus zu verlangen, wenn und soweit er selbst zulässigerweise an die Grenzwand anbauen wollte, geregelt.
Weiter werde dem dämmenden Eigentümer die Unterhaltungspflicht für den Wärmeschutzüberbau aufgebürdet. Die Verweisung auf § 17 Abs. 3 NachbarG Bln gewährleiste die zügige und schonende Ausübung des Überbaurechts und die Verweisung auf § 912 Abs. 2 BGB die Entschädigungspflicht.
Die materiellen Voraussetzungen von § 16a NachbarG Bln lägen hier vor, da es sich bei der Wand um eine Grenzwand handle, das Gebäude seit mehr als 100 Jahren bestehe und eine Innendämmung nach dem Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme keine adäquate Alternative zum Anbringen einer Außendämmung darstelle. Der Anspruch auf Duldung des hängenden Gerüsts für die Dauer der Arbeiten und des Betretens des Daches zu deren Durchführung folge aus § 17 Abs. 1 und 2 NachbarG Bln.
Die Beklagte wollte mit der Revision die Abweisung der Klage erreichen.
Entscheidung des BGH
Ohne Erfolg. Nach Ansicht des BGH halten die Erwägungen des Landgerichts im Ergebnis der rechtlichen Nachprüfung stand (vgl. BGH, Urteil vom 01.07.2022, Az. V ZR 23/ 21). Daher hat die Klägerin gegen die Beklagte einen Anspruch gem. § 16a NachbarG Bln auf Duldung der Überbauung ihres Grundstücks zum Zwecke der Wärmedämmung der grenzständigen Giebelwand ihres Gebäudes.
Unter Verweis auf sein Urteil vom 12.11.2021, Az.: V ZR 115/ 20, weist der BGH darauf hin, dass Regelungen, die den Grundstückseigentümer zur Duldung einer nachträglichen grenzüberschreitenden Wärmedämmung des Nachbargebäudes verpflichten, wegen des Vorbehalts in Art. 124 EGBGB von der Gesetzgebungskompetenz der Länder umfasst sind.
Der BGH hat zwar Zweifel an der inhaltlichen Verfassungsmäßigkeit von § 16a NachbarG Bln, speziell an der Vereinbarkeit der Regelung mit Art. 14 Abs. 1 GG. Gleichwohl kam eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht nicht in Betracht, denn Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des betreffenden Gesetzes reichen hierfür nicht aus. Vielmehr hätte der BGH von der Verfassungswidrigkeit überzeugt sein müssen.
Das war jedoch nicht der Fall, denn § 16a NachbarG Bln dient dem Ziel, die energetische Sanierung bestehender Gebäude, insbesondere von Altbauten, zu erleichtern; die nachträgliche Wärmedämmung einer Grenzwand soll auch in dem Fall ermöglicht werden, dass sie einen Überbau auf das Nachbargrundstück mit sich bringt (Drs. 16/2594, S. 2). Die Regelung zielt folglich auf Energieeinsparungen bei bestehenden Wohngebäuden ab und dient dadurch mittelbar dem Klimaschutz, dem über das aus Art. 20a GG abgeleitete Klimaschutzgebot Verfassungsrang zukommt (vgl. hierzu BVerfGE 157, 30).
Der BGH bezweifelt nicht, dass die in § 16a NachbarG BIn getroffene Regelung zur Erreichung dieses Zieles geeignet und erforderlich ist. Fraglich konnte daher nur sein, ob die Regelung im engeren Sinne verhältnismäßig ist, insbesondere, ob sie die Interessen des duldungspflichtigen Nachbarn noch in einer Weise berücksichtigt, dass der gesetzgeberische Gestaltungsspielraum eingehalten ist. Das hält der BGH jedenfalls nicht für ausgeschlossen.
„In der Gesamtschau erscheint es dem Senat durchaus möglich, dass § 16 a NachbarG Bln insgesamt noch als verhältnismäßig anzusehen ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Regelung aus Sicht des Gesetzgebers nicht allein das Verhältnis zweier Grundstückseigentümer untereinander betrifft, deren Individualinteressen zum Ausgleich zu bringen sind. Sie dient vielmehr vor allem dem Klimaschutz und damit einem anerkannten Gemeinwohlbelang mit Verfassungsrang; im Interesse künftiger Generationen ist der Gesetzgeber verfassungsrechtlich sogar verpflichtet, in allen Lebensbereichen Anreize für die Entwicklungen zu schaffen, die den rechtzeitigen Übergang zur Klimaneutralität ermöglichen (vgl. BVerfGE 157, 30 Rn. 248). Ein solcher Anreiz soll hier gesetzt werden. Das wirtschaftliche Interesse des Grundstückseigentümers an der Einsparung von Energie durch eine grenzüberschreitende Dämmung seines Bestandsgebäudes wird nicht als solches, sondern deswegen höher gewichtet als das entgegenstehende Interesse des Nachbarn an der vollständigen Nutzung seines Grundstücks, weil es sich mit dem Interesse der Allgemeinheit an der möglichst raschen Dämmung von Bestandsgebäuden deckt. Zwar erscheint dem Senat bedenklich, dass das individuelle Interesse des Nachbarn selbst dann keine Berücksichtigung findet, wenn im Einzelfall die Annahme einer Unzumutbarkeit der Duldungsverpflichtung naheläge. Es ist aber nicht zu verkennen, dass der Streit zwischen den Nachbarn über die Frage, ob ein solcher Ausnahmefall vorliegt, zu einer unter Umständen Jahre währenden Verzögerung der jeweiligen Maßnahme oder sogar dazu führen kann, dass der Grundstückseigentümer von der Dämmung seines Gebäudes ganz absieht. Der Senat hält es daher für nicht ausgeschlossen, dass der generalisierende Ansatz des Berliner Landesgesetzgebers, den Duldungsanspruch klar und einfach zu regeln, um auf das Ganze gesehen die Durchführung möglichst vieler und rascher Dämmmaßnahmen zu erreichen, noch zulässig ist, auch wenn damit für den jeweiligen Nachbarn im Einzelfall gewisse – unter Umständen auch erhebliche – Härten verbunden sein mögen.“
Der Anspruch der Klägerin darauf, dass die Beklagte die Anbringung eines hängenden Gerüsts für die Dauer von drei Monaten und das Betreten des Daches ihres Gebäudes zur Durchführung der Sanierungs- und Wärmedämmungsarbeiten duldet, folgt aus dem sog. Hammerschlagsrecht nach § 17 Abs. 1 und 2 NachbarG Bln.
Danach muss der Eigentümer eines Grundstücks dulden, dass sein Grundstück einschließlich der Bauwerke von seinem Nachbarn zur Vorbereitung und Durchführung von Bau-, Instandsetzungs- und Unterhaltungsarbeiten auf dem Nachbargrundstück vorübergehend betreten und benutzt wird, wenn und soweit die Arbeiten anders nicht oder nur mit unverhältnismäßig hohen Kosten durchgeführt werden können, die mit der Duldung verbundenen Nachteile oder Belästigungen nicht außer Verhältnis zu dem von dem Berechtigten erstrebten Vorteil stehen und das Vorhaben öffentlich-rechtlich zulässig ist. Dieses Recht umfasst die Befugnis, auf oder über dem Grundstück Gerüste und Geräte aufzustellen und die für die Arbeiten erforderlichen Baustoffe über das Grundstück zu bringen.
Diese Voraussetzungen lagen nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hier vor. Mit der Wahl eines hängenden Gerüsts, welches das Gebäude des zur Duldung verpflichteten Nachbarn nicht berührt, wird dem Erfordernis einer schonenden Ausübung des Hammerschlagsrechts Rechnung getragen. Die Absicht, ein solches Gerüst zu errichten, ist dem Nachbarn vorab anzuzeigen.
Anmerkung
Mit Blick auf den Klimaschutz bleibt es in Berlin – anders als in anderen Bundesländern mit restriktiveren Regelungen – bei einer fast uneingeschränkten Duldungspflicht für Überbauungen zum Zweck der Wärmedämmung, jedenfalls solange es keine endgültige Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit des § 16a NachbG Bln gibt.
Zur Person
Ulrike Gantert ist Rechts- und Fachanwältin für Bau- und Architektenrecht bei Brillinger RechtsAnwälte PartGmbB sowie Schlichterin und Schiedsrichterin für Baustreitigkeiten nach der Schlichtungs- und Schiedsordnung (SO-Bau). Seit 1994 ist sie im Immobilienrecht tätig. Sie hält Vorträge und Seminare zu bau- und architektenrechtlichen Themen und ist u. a. Mitherausgeberin des im FORUM Verlag erschienenen Loseblattwerks „VOB und BGB am Bau“.