Im Streitfall
Sicher trotz Abweichung?
Der richtige Umgang mit den anerkannten Regeln der Technik im Bestand
Text: Florian Herbst | Foto (Header): © Brian Jackson – stock.adobe.com
Bauen abweichend der anerkannten Regeln der Technik stellt gerade beim Bestandsgebäude keine Seltenheit dar, bietet jedoch für den Planer erhebliches Haftungspotential und kann im Schadensfall zum Verlust des Versicherungsschutzes führen. Der nachfolgende Beitrag soll dem rechtssicheren Bauen dienen und Hilfestellung geben, Haftungsfallen zu „umschiffen“.
Auszug aus:
der bauschaden
Ausgabe Oktober / November 2016
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Die Bestimmung der anerkannten Regeln der Technik und deren Umsetzung stellen den Planer insbesondere beim Bauen im Bestand vor eine enorme Herausforderung. Dieser sollte sich vor der Bauausführung zwingend mit folgenden Fragestellungen auseinandersetzen:
• Welche anerkannten Regeln der Technik gelten?
• Werden diese anerkannten Regeln der Technik bei der geplanten Ausführung eingehalten?
• Falls nein, wie gehe ich hiermit um?
Erst wenn der Planer diese Fragen zweifelsfrei beantworten kann, sind die Voraussetzungen für eine konfliktfreie Bauausführung geschaffen.
Nicht selten ist zu beobachten, dass in der Praxis – z. B. in Bauverträgen – die anerkannten Regeln der Technik mit anderen so genannten Technikklauseln, nämlich dem „Stand der Technik“ oder dem „Stand von Wissenschaft und Technik“, verwechselt werden. Nach den Ausführungen des Reichsgerichts ist eine Regel dann allgemein anerkannt, wenn sie die ganz vorherrschende Ansicht der (technischen) Fachleute darstellt. Ausgehend davon setzt eine „allgemein anerkannte Regel der Technik“ zunächst voraus, dass sie sich in der Wissenschaft als (theoretisch) richtig durchgesetzt hat (allgemeine wissenschaftliche Anerkennung). Zudem muss die Regel Eingang in die Praxis gefunden und sich dort überwiegend bewährt haben (praktische Bewährung).
Konkretisierung im Einzelfall
Allein anhand der genannten Definition lässt sich noch nicht ableiten, wie die anerkannten Regeln der Technik konkretisiert und im Einzelfall angewendet werden können. Die Praxis behilft sich damit, dass sie auf technische Regelwerke abstellt, die für das jeweils betroffene Gewerk Vorgaben und Anforderungen – beispielsweise in Form von Grenzwertangaben – enthalten.
In diesem Zusammenhang soll mit dem weit verbreiteten Irrglauben aufgeräumt werden, zur Bestimmung der anerkannten Regeln der Technik reiche ein Blick in die betreffende DIN-Norm. DIN-Normen werden zwar regelmäßig unter Zugrundelegung der vorherrschenden Ansicht von technischen Fachleuten erstellt. Sie sind jedoch keine Rechtsnormen, sondern „private technische Regelungen mit Empfehlungscharakter“, so der Bundesgerichtshof (BGH) in seiner Entscheidung vom 14.05.1998 (Az.: VII ZR 184 / 97).
DIN-Normen haben zwar die Vermutung für sich, die anerkannten Regeln der Technik wiederzugeben. Bei dieser Vermutungswirkung ist jedoch Vorsicht geboten, denn sie ist jederzeit widerlegbar. Eine DIN-Norm kann insbesondere dann keine Geltung als anerkannte Regel (mehr) beanspruchen, wenn sie veraltet ist. Die Veröffentlichung eines DIN-Entwurfs (Gelbdruck) ist hierfür ein untrügliches Zeichen.
Der stetige technische und wissenschaftliche Fortschritt bewirkt, dass die anerkannten Regeln der Technik ständigen Anpassungen unterworfen sind. Der Planer und Bauüberwacher hat insofern fortlaufend die entsprechenden Entwicklungen „im Auge“ zu behalten und seinen Auftraggeber rechtzeitig über Änderungen der anerkannten Regeln der Technik zu informieren.
Einzuhaltender Mindeststandard
Aber wieso ist die Einhaltung der anerkannten Regeln für den Architekten und den Bauausführenden so relevant?
Nach ständiger Rechtsprechung des BGH gelten die anerkannten Regeln der Technik sowohl im BGB- als auch im VOB/BWerkvertrag als grundsätzlich einzuhaltender Mindeststandard (zuletzt BGH, Urteil vom 10.07.2014, Az.: VII ZR 55 / 13). Das bedeutet, auch ohne konkrete Vereinbarung im Vertrag schuldet der Architekt oder Ingenieur eine Ausführung entsprechend den anerkannten Regeln der Technik. Dies gilt selbstverständlich entsprechend für den ausführenden Unternehmer. Die anerkannten Regeln der Technik stellen insofern das „Mindeste“ dar, was ein Auftraggeber vom Planer und Bauüberwacher erwarten und beanspruchen kann.
Besonderheiten im Hinblick auf die anerkannten Regeln der Technik bestehen beim Bauen bzw. Planen im Bestand. Der Umgang mit Gebäuden jeglichen Alters und jeglicher Nutzung erfordert grundsätzlich besondere Sorgfalt und spezielle planerische und bautechnische Kenntnisse. Dies gilt insbesondere für den haftungsträchtigen Schall-, Wärme- und Brandschutz. Hierbei stellt sich die Frage, ob bei einem Umbau die heutigen oder die zum Zeitpunkt der Errichtung des Gebäudes geltenden anerkannten Regeln der Technik einzuhalten sind. Diese Fragestellung kommt v. a. deshalb auf, da DIN-Normen – sofern sie die anerkannten Regeln der Technik darstellen – primär auf den Neubau ausgerichtet sind und insofern nicht als „Mindeststandard“ herangezogen werden können.
Grundsätzlich kommt es nach für die Bestimmung der geschuldeten Leistung auf den Inhalt des Vertrags an. Da sucht man beim Architekten- / Ingenieurvertrag leider oftmals vergeblich. In einem derartigen Fall ist nach § 633 Abs. 2 BGB „die nach dem Vertrag vorausgesetzte Beschaffenheit“ geschuldet. Ist diese nicht feststellbar, gilt eine Beschaffenheit, wie sie bei Werken der gleichen Art und Güte üblich ist und wie sie der Bauherr nach der Art des Werks erwarten darf.
Bei Neubauten führt die Interpretation dieser Erwartungshaltung des Bauherrn stets dazu, dass das Bauvorhaben nach den zum Zeitpunkt der Abnahme anerkannten Regeln der Technik zu errichten ist. Diese Annahme lässt sich nicht ohne Weiteres auf einen Bauherrn übertragen, der Maßnahmen an einem Bestandsgebäude in Auftrag gibt. Fehlt es dabei an einer vertraglichen Abrede über die auszuführende Bauqualität, ist zur Bestimmung des Geschuldeten auf die sonstigen vertragsbegleitenden Umstände, die konkreten Verhältnisse des Bauwerks und seines Umfelds, den qualitativen Zuschnitt, den architektonischen Anspruch und die Zweckbestimmung abzustellen. Danach darf ein Bauherr in der Regel erwarten, dass im Rahmen des technisch Möglichen die Maßnahmen geplant werden, die erforderlich sind, um den heute – also zum Zeitpunkt der Abnahme – üblichen Komfortstandard zu erreichen.
Mit dieser Begründung hat das Oberlandesgericht (OLG) Düsseldorf einen mit der Planung und Bauüberwachung der Modernisierung und Sanierung einer Eigentumswohnung beauftragten Architekten zum Schadensersatz verurteilt (Urteil vom 15.07.2010, Az.: 5 U 25 / 09). Im Zuge von Schallmessungen stellte sich nach Bauausführung heraus, dass die Trittschalldämmung des neuen Parkettbodens den Anforderungen des Schallschutzes zum Zeitpunkt der Errichtung des Gebäudes zwar genügte, indes nicht ansatzweise die Mindestanforderungen der DIN 4109 eingehalten wurden. Hierfür war nach Ansicht des Gerichts der Architekt verantwortlich. Dieser habe es versäumt, den „heute“ üblichen Schallschutzstandard zu beachten.
Bei Fehlen einer vertraglichen Vereinbarung gelten demnach, zumindest bei nicht unerheblichen Eingriffen in den Bestand, im Zweifel die aktuellen anerkannten Regeln der Technik. Es ist dem Planer beim Bauen im Bestand daher dringend zu raten, im Vertrag die konkrete Beschaffenheit für den geschuldeten Qualitäts- und Komfortstandard zu regeln.
Vereinbarung von Abweichungen
Ausnahmsweise sind die anerkannten Regeln der Technik für die werkvertragliche Sachmangelbeurteilung nicht relevant, wenn die Bauvertragsparteien eine höherwertigere Bauausführung als die allgemein übliche – z. B. den „Stand der Technik“ – vereinbart haben.
Zudem können die Vertragsparteien auch eine unterhalb der allgemein üblichen Qualität liegende Bauausführung vereinbaren (eine Beschaffenheitsvereinbarung „nach unten“). Dies ist insbesondere beim Bauen im Bestand relevant, da es aus technischer Sicht nahezu unmöglich ist, sämtliche anerkannte Regeln der Technik einzuhalten, die für Neubauten bestehen. Hierbei ist jedoch Vorsicht geboten. An eine wirksame Beschaffenheitsvereinbarung „nach unten“ im Bauvertrag werden sehr hohe Anforderungen gestellt. Der Planer oder Bauüberwacher muss den Auftraggeber deutlich auf das Abweichen vom allgemein üblichen Qualitätsstandard hinweisen und ihn über die Folgen aufklären (vgl. BGH, Urteil vom 04.06.2009, Az.: VII ZR 54 / 07). Gerade bei einem Laien als Auftraggeber ist der nicht näher erläuterte Hinweis auf eine DIN-Norm, die nicht die anerkannten Regeln der Technik darstellt, unzureichend. Dieser hat im Zweifel keine Vorstellung davon, was sich dahinter verbirgt.
Etwas anderes kann (ausnahmsweise) gelten, wenn sich beide Vertragsparteien fachlich „auf Augenhöhe“ gegenüberstehen – also inhaltlich genau wissen, was mit der Bezugnahme auf eine DIN-Norm gemeint ist (vgl. OLG Stuttgart, Urteil vom 17.10.2011, Az.: 5 U 43 / 11). Der klassische „Häuslebauer“ ist jedoch im Fall einer Beschaffenheitsvereinbarung „nach unten“ zwingend über die Bedeutung und Folgen einer derartigen Vereinbarung in aller Klarheit aufzuklären. Die geschuldete Leistung wird in diesen Fällen maßgeblich davon bestimmt, ob der Planer seiner vertraglichen Beratungspflicht nachkommt oder nicht.
In der Rechtsprechung hat sich zuletzt das OLG München mit der Frage beschäftigt, wie ein Unterschreiten der anerkannten Regeln der Technik wirksam vereinbart werden kann bzw. wie es gerade nicht funktioniert (Urteil vom 26.02.2013, Az.: 9 U 1553 / 12 Bau). Hierbei war zwar Grundlage ein Bauvertrag über ein Reihenendhaus, die Leitsätze sind aber auch auf den Architektenvertrag übertragbar. In der dabei streitgegenständlichen Baubeschreibung war u. a. folgende Klausel enthalten: „Gäste-WC, Windfang und Flur im Erdgeschoss bilden einen Heizkreis.“ Mit ihrer Klage nahmen die Auftraggeber das ausführende Unternehmen auf Vorschusszahlung zur Mängelbeseitigung (Herstellung getrennter Heizkreise von Gäste-WC und Flur) in Anspruch. Mit Erfolg, wie der Senat des OLG München bestätigte. Hinsichtlich der Heizungsanlage liege ein Mangel vor, soweit WC und Flur keine getrennten Heizkreise hätten. Das entspreche nicht den anerkannten Regeln der Technik. Diese seien bei Vertragsschluss stillschweigend vereinbart worden. Eine Abweichung käme nur bei ausdrücklicher Klarstellung, dass von den Regeln der Technik abgewichen werde, in Betracht. Diese war jedoch nicht vorhanden.
Trotz des eindeutigen Wortlauts der Leistungsbeschreibung ist das OLG München von einem Mangel der Werkleistung ausgegangen. Fehlt es also an einer ausreichenden Aufklärung, bleibt es beim vertraglich einzuhaltenden Mindeststandard; der Architekt und das ausführende Unternehmen schulden eine Bauausführung nach den anerkannten Regeln der Technik. Eine Abweichung von den anerkannten Regeln der Technik ohne ausreichende Aufklärung des Auftraggebers führt insofern „geradewegs“ zum Haftungsfall für Planer. Schlimmstenfalls verliert er, bei einem „bewussten“ Abweichen von den anerkannten Regeln der Technik, sogar seinen Versicherungsschutz [1]. Nicht zuletzt könnte dem Planer auch in strafrechtlicher Hinsicht „Ungemach“ drohen, denn das vorsätzliche Abweichen von den anerkannten Regeln der Technik stellt gemäß § 319 Strafgesetzbuch eine Straftat dar, sofern es hierdurch zu einer Gefährdung von Leib und Leben eines Menschen kommt.
Konsequenzen für die Praxis
Ein Planer, der von dem Mindeststandard der anerkannten Regeln der Technik vertraglich (negativ) abweichen will, sollte daher Obacht walten lassen. Er muss seinen Auftraggeber deutlich darauf hinweisen und ihn über die Folgen einer solchen Bauweise aufklären. An diese Aufklärung sind hohe Anforderungen zu stellen, weshalb von einem Unterschreiten der allgemein anerkannten Regeln der Technik eigentlich nur abgeraten werden kann.
Dies gilt auch mit Blick auf die drohenden strafrechtlichen Konsequenzen, die sich weder durch Vertragsklauseln noch spezielle Versicherungen abwenden lassen. Dies sollte dem Architekten / Ingenieur stets bewusst sein. Sollte eine Abweichung von den anerkannten Regeln der Technik jedoch unumgänglich sein oder vom Auftraggeber gefordert werden, empfiehlt sich zumindest entweder eine konkrete und inhaltlich klare Regelung im Vertrag (nebst Risikoaufklärung) oder – im Laufe des Planungsprozesses bzw. der Bauausführung – die schriftliche Vereinbarung einer so genannten Haftungsfreistellungsvereinbarung. Diese ist so konkret wie möglich zu formulieren. Insbesondere sollte dargestellt werden, welche Bauausführung eine Abweichung von den anerkannten Regeln der Technik darstellt (Nennung der einschlägigen DIN-Norm oder Ähnliches), weshalb die Abweichung erforderlich ist, welche Folgen hiermit verknüpft sein können und dass der Auftraggeber diesbezüglich auf seine Gewährleistungsansprüche gegen den Architekt verzichtet. Zwar lässt sich eine ausreichende Aufklärung des Bauherrn auch über den gewechselten Schriftverkehr nachweisen. Da hierbei oftmals Interpretationsspielraum möglich ist, birgt eine derartige Beweisführung aber erhebliche Risiken.
Eine Abweichung von den anerkannten Regeln der Technik kann, zusammengefasst, nur im Wege einer umfassenden – nachweisbaren – Risikoaufklärung gegenüber dem Auftraggeber wirksam vereinbart werden. Dieser muss wissen, welche Folgen hiermit für ihn verknüpft sein können.
Literatur
[1] Vgl. Ziff. 4.6 der BBR, Musterbedingungen des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft, Stand: April 2011
Zu den Anforderungen an anerkannte Regeln der Technik: OLG Hamm, Urt. v. 18.04.1996, Az.: 17 U 112 / 95
Zur Qualifizierung von DIN-Normen: BGH, Urt. v. 14.05.1998, Az.: VII ZR 184 / 97
Zu den anerkannten Regeln der Technik als Mindeststandard: BGH, Urt. v. 10.07.2014, Az.: VII ZR 55 / 13
Zu Abweichungen von den anerkannten Regeln der Technik: BGH, Urt. v. 04.06.2009, Az.: VII ZR 54 / 07; OLG München, Urt. v. 26.02.2013, Az.: 9 U 1553 / 12 Bau
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Florian Herbst ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Bau- und Architektenrecht. Er vertritt bundesweit Bauunternehmen, Bauträger, Architekten und Ingenieure bei der Durchsetzung ihrer Rechte und Ansprüche.
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